Kontaktabbruch - Verlassene Eltern

Letztes Jahr erregte eine Anzeige in unserer Tageszeitung meine Aufmerksamkeit. Sie lautete folgendermaßen:
VERLASSENE ELTERN
Eine sozialpolitische und gesellschaftliche Katastrophe bahnt sich deutschlandweit an. Immer mehr erwachsene Kinder brechen ohne Angabe von Gründen den Kontakt zu ihren Eltern ab.
Seit März diesen Jahres besteht auch in Erlangen, wie bereits in vielen anderen Städten in Deutschland, eine Selbsthilfegruppe, in der solche "Verlassene Eltern" sich über ihren Schmerz, ihre Wut, Traurigkeit oder Hilflosigkeit aussprechen können.
Hinter der Anzeige steht die Selbsthilfegruppe Verlassene Eltern, die vor ca. acht Jahren von einem betroffenen Elternpaar gegründet wurde. Im Gründungsjahr zählte die Homepage, laut Begründern, 300 Leser, die bis zum Jahr 2010 auf über 110.000 Leser anstieg (Anm. Die hier erwähnte Homepage exisitiert seit Sommer 2013 nicht mehr. Unter "Verlassene Eltern" finden Sie nun das Trauernetz Consolare - Trauer- und Lebensbegleitung in Krisenzeiten / Verlassene Eltern - Verlassene Menschen. Hier sind regionale Selbsthilfegruppen gelistet).
Auf der Homepage befindet sich ein Klick für Söhne/Töchter mit der Bitte "Helft uns eure Entscheidung/euer Handeln zu verstehen".
Warum habt ihr uns verlassen?
Es wird um Sponsoren geworben und um Fachleute, die helfen das Phänomen zu verstehen und zu verarbeiten.

Ich glaube, dass das Buch von Sabine Bode "Die vergessene Generation" diesen Eltern eine große Hilfe zur Antwortfindung wäre. Ich hatte letztes Jahr Kontakt zur SHG aufgenommen und stellte fest, dass ein großes "Opferbewusstsein" vorliegt. Es geht weniger um Verständnis für das Verhalten der Kinder, als vielmehr um Schuldzuweisung und Interpretation. Das zeigen Vorträge von Autoren, die Bücher über "Wegwerfeltern" schreiben oder Zeitschriftenbeiträge, die solche Kinder als "Superegoisten" bezeichnen. Für mich ist das eine starke Polarisierung und erinnert mich an die Diskussion in den achziger Jahren, als Bücher auf dem Markt erschienen, in denen die Eltern sehr schlecht wegkamen und wir die Schuld bei ihnen suchten, wenn uns unser Leben nicht gelang.
Die Frage, die sich mir stellt: Ist das nötig? Und vor allen Dingen: Hilft das irgendjemandem?

Sabine Bodes Buch macht klar, dass es sich hier um eine Generation handelt, die bereits viel früher verlassen oder getrennt wurde. Von den Vätern, die in den Krieg zogen, von den Müttern, wenn sie evakuiert oder auf Kinderlandreisen verschickt wurden, von ihren Brüdern, die im Krieg fielen, manchmal von der Familie, die neben ihnen im Bombenhagel starb oder wenn sie verloren gegangen sind in überfüllten Zügen oder auf der Flucht.
Vielleicht ist das wortlose Gehen der Kinder eine Erinnerung an diese Traumatisierungen in frühester Kindheit. Und dort sind die Antworten zu suchen. Sicher hat diese Generation das Beste getan, das ihnen möglich war und dafür gebührt ihr Anerkennung und Dank. Vielleicht war das Beste, das sie geben konnte, nicht das, was ihre Kinder gebraucht hätten. Es geht nicht um Schuld, es geht um Unvermögen, um Unfähigkeit, die einen Grund, einen Ursprung, eine Wurzel hat.
Die vergessene Generation entwickelt sich zu einer verlassenen Generation, die nun ihr Schweigen bricht. Und sich als Opfer des Verhaltens ihrer Kinder sieht, statt sich bewusst zu werden, wo sie in ihrem Leben wirklich Opfer waren. "Was uns nicht umbringt, macht uns hart", "Hart wie Kruppstahl", das sind Aussagen mit denen sogar ich noch aufgewachsen bin und die keinerlei Opferbewusstsein hochkommen lassen. Im Gegenteil. "Es hat uns nicht geschadet", der Standardsatz, wenn es um die Kindheit im Krieg und die Folgezeit ging. Sind die verlassenen Eltern Opfer ihrer Vergangenheit oder Opfer ihrer Kinder? Und wo dürfen sie sich als Opfer fühlen? Dürfen Kinder von geächteten Nazis Opfer sein? Gehört Schmerz, Wut und Hilflosigkeit vielleicht in die Kindheit? In die Zeit, die bisher missachtet, verschwiegen wurde? Waren die "Wegwerfeltern" bereits "Wegwerfkinder"? Oder ist es einfacher sich als Opfer des Kindes, das einen missachtet, zu fühlen? Ist es einfacher all die Wut, die Hilflosigkeit, den Schmerz und auch Schuld, Scham und Ohnmacht, all die Gefühle, die bisher nicht gefühlt werden durften, auf die undankbaren Kinder zu projizieren?

Auf der Fachtagung der SHG 2010 hielt der Therapeut Jörg Eikmann einen Vortrag und sagte, wenn die Kinder den Mut hätten den Mund aufzumachen, dann wäre das starker Tobak für die Eltern.
Das entspricht dem, was ich in verschiedenen Foren zu diesem Thema gelesen habe. Wenn die Eltern wirklich eine Antwort auf ihre Frage "Warum?" haben wollen, dann müssen sie sich warm anziehen.
Denn die Wahrnehmung der Eltern ist eine andere, als die ihrer Kinder. Auch die Kinder fragen "Warum?" und haben bisher selten eine Antwort bekommen. So unbeantwortet die Fragen der Kinder oft blieben, so unbeantwortet bleiben in heutigen Zeiten die Fragen der Eltern. Das Thema "Verlassen werden und Verlassen sein" ist ein heißes Thema in unserer Gesellschaft. Und ich hoffe, dass alle Parteien ihren inneren Frieden finden, auf welchem Weg auch immer. Erst wenn wir unseren inneren Frieden gefunden haben, und das kann nur jeder für sich selber tun, ist es möglich, den Frieden im Außen zu schaffen. Das gilt für die Kinder und für die Eltern.

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Eine Übersicht zum Thema finden Sie auf meiner Website unter "Traumatisierte Familien".

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Mehr Gedanken zu diesem Thema unter "Brief einer Mutter an ihren Sohn", "Band ums Herz", "Du sollst dein Kind ehren", "Kriegskinder - Die vergessene Generation", "Kriegsenkel - Die Erben der vergessenen Generation", "transgenerationale Traumata", "German Angst",  "Du hast mich nie gesehen!", "Ein System für das es noch keinen Namen gibt""Durch uns statt Von uns",

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