Liebe - gleichgeschlechtlich


Im ZEIT-Magazin Nr. 33 gibt es einen Bericht, der heißt "Wir Kinder vom Busbahnhof".
In dem Artikel geht es um junge, homosexuelle Palästinenser, die aus ihrer Heimat nach Tel Aviv geflüchtet sind. Dort werden sie genau so geächtet, nicht weil sie schwul sind, sondern weil sie als potentielle Terroristen gelten. Um zu überleben müssen sie sich prostituieren oder kriminell werden.
Saleh, ein 28-jähriger aus Hebron erzählt seine Geschichte:

Es war Herbst, in den Bergen um Hebron, wo er mit seinen Eltern in einem Vorort wohnte, wurden die Weintrauben geerntet. Ein Nachbar bat den Zwölfjährigen zu sich ins Haus. Er sagte, er wolle ihm etwas zeigen, ein Geschenk. Der Junge folgte ihm, ein Geschenk bekam er nicht, stattdessen wurde er vergewaltigt. Weinend rannte Saleh nach Hause, Blut lief über seine Beine.
»Dann explodierte alles«, sagt er.
Eine Stunde später stand sein Vater vor der Tür des Nachbarn. Die Männer redeten, der Nachbar gab Saleh die Schuld. Er habe ihn verführt. Der Nachbar war ein angesehener Mann im Vorort, der Vater glaubte ihm. Die Ehre der Familie, so sah es der Vater, war zerstört. Der Sohn war schwul. Dass er noch ein Kind war, dass er misshandelt wurde: Nebensache.
Vergewaltigt als Kind, größerer Schrecken ist kaum denkbar. Doch für Saleh kam es noch schlimmer. Seine Stimme wird brüchig, als er weitererzählt. Seine Finger umklammern eine Windsor, sie ist schon bis zum Filter geraucht.
Als sein Vater damals von dem Nachbarn zurückkam, rief er die Brüder, die Mutter und die Schwester zusammen. Dann zog er den Draht aus einem Stromkabel. Die Brüder nahmen Stöcke. Die Schläge prasselten auf Saleh nieder, bis er das Bewusstsein verlor. Als er wieder aufwachte, konnte er nicht mehr aufstehen. Beide Beine waren gebrochen, knapp über den Knöcheln.
Einen Monat lang sperrten ihn seine Eltern in den Keller, er wurde weiter geschlagen. Saleh zieht seinen Pullover hoch, sein Oberkörper ist übersät von Narben. Narben von Schnittwunden, von Stichwunden, von Brandwunden, von Platzwunden. Manche sind einigermaßen verheilt, sie bilden nur noch helle Striche auf seiner Haut. Die meisten jedoch sind schlecht verheilt, weil sie niemand verarztet und gepflegt hat. Als dicke Geschwülste ziehen sie sich über die Haut. Saleh schaut auf seinen Oberkörper hinab. »Meine eigene Familie.« Dann vergräbt er sein Gesicht hinter beiden Händen. Ganz still sitzt er so da, eine ganze Weile.
Ihm gelang die Flucht nach Jerusalem. In Israel gibt es kein Asyl für Palästinenser und für Saleh keinen Platz, weder zuhause und auch nicht in Israel.

Nach sechs Monaten in Jerusalem fand ihn seine Familie. Er weiß nicht, wie, aber auf einmal standen sie vor ihm, sein Vater und seine Brüder. Sie zerrten ihn in ein Auto und brachten ihn zurück nach Hebron. Dort sperrten sie ihn wieder in der Wohnung ein. Über das, was knapp ein Jahr zuvor passiert war, sprach niemand.
Nach einer Woche durfte er aus dem Haus, zur Schule. Es dauerte ein paar Tage, dann wurde er in der Schule verprügelt, und in seiner Straße verbreiteten sich Gerüchte: Jemand wollte gesehen haben, wie er wieder in das Haus des Nachbarn ging. Was nützte es, dass er es bestritt? Einem Schwulen wie ihm glaubten sie nicht.
Diesmal rammte ihm sein Bruder einen Schraubenzieher zwischen die Rippen. Saleh findet die Narbe sofort. Diese Wunde hätte ihn fast das Leben gekostet, sagt er.
Er verlor viel Blut, sehr viel Blut, aber sie brachten ihn nicht zu einem Arzt, sondern sperrten ihn wieder ein. In der Nacht flüchtete er, rettete sich in ein Krankenhaus. Als man ihn fragte, wer das getan habe, sagte er, er könne sich nicht erinnern.
Erneut gelingt ihm die Flucht, diesmal nach Tel Aviv. Er kommt nach einer Razzia für ein Jahr ins Gefängnis, wo Prügel von Mithäftlingen und Wärtern auf ihn warten. Der erste Selbstmordversuch. Nach der Haft wird er von Soldaten am Grenzübergang abgeladen. Er geht zurück zur Familie mit dem Gedanken: Dann sollen sie mich halt töten. Als die Familie vom Gefängnisaufenthalt im Land des Feindes erfährt, scheint er rehabilitiert.

An einem Abend nach zwei oder drei Wochen fiel dem Vater ein Tattoo auf, das Saleh auf der Schulter trug. Der Vater war der Meinung, nur Schwule ließen sich tätowieren. Wer schwul ist, muss mit dem Feind kollaborieren.
Vater und Brüder schlugen Saleh bewusstlos. Als er zu sich kam, auf dem Boden liegend, hielten ihn die Brüder fest, sein Vater stand über ihm, in der rechten Hand ein Bügeleisen, damit brannte er seinem Sohn das Tattoo von der Haut. Eine Brandnarbe, die sich über die ganze Schulter zieht, zeugt bis heute davon.
Erneute Flucht nach Tel Aviv um sein Leben zu retten, das er dann in mehrmaligen Selbstmordversuchen beenden wollte.
Vor einem Jahr hat er das letzte Mal versucht, sich umzubringen. Er besorgte sich einen Strick und befestigte ihn am Deckenbalken eines verfallenen Hauses. Als er mit dem Fuß die Kiste wegtrat, auf der er stand, brach der Balken. Saleh lacht. »Noch nicht mal der Tod will mich haben."
Nachdem ich diesen Artikel gelesen hatte, fragte ich mich, wie viel Schmerz ein Körper erträgt. Anscheinend sehr viel. Die Wunden verheilen, manche mehr und manche weniger gut. Saleh humpelt, da sein rechtes Bein noch immer schmerzt. Und ich fragte mich wie viel Schmerz eine Seele verträgt und wie die Wunden der Seele verheilen und was seelisches Narbengewebe mit uns macht. Salehs Körper ist übersät mit Narben, seine Seele auch. Vielleicht werden es auch immer offene Wunden bleiben. Was braucht ein Körper um zu heilen und was braucht eine Seele. Was bräuchte Salehs Seele um heil zu werden?
Ich schätze mal, das, was wir alle brauchen: Toleranz, Verständnis, Akzeptanz, Würde, Trost.
Das ist es, was eine verletzte Seele braucht, ob hetero- oder homosexuell.

Diese Geschichte spielt ja so weit weg. Palästina - Israel.

"Was haben wir falsch gemacht"
Das ist der Titel eines Artikels in unserer heutigen Tageszeitung (online nachzulesen in der NZ, mit Datum vom 31.5.2012)

Keine Normalität in Sicht: Ein Vierteljahrhundert nach Gründung der "Elterngruppe homosexueller Söhne und Töchter" bei Fliederlich muss Inge Breuling (71) betroffenen Müttern und Vätern immer noch die gleichen Sorgen ausreden wie vor 25 Jahren.
"Was haben wir nur falsch  gemacht" oder "Wie kann er mir das antun?" bekommt die Ex-Lehrerin heut ebenso oft zu hören wie vor Jahren. Die Verzweiflung und das Unverständnis, die viele befallen, seien genau so groß wie vor 25 Jahren.
Den Schritt zur Bildung der Selbsthilfegruppe machten 1987 laut B. Eltern eines schwulen 16-jährigen, die nach einem Blick in ein altes Lexikon erschreckt feststellten, dass Homosexualität als verwerflich und strafbar dargestellt wird. Der berüchtigte Paragraf 175 des Strafgesetzbuchs, der homosexuelle Beziehungen zwischen Männern unter Strafe stellt, sei schließlich erst 1994 abgeschafft worden.
In den Köpfen von Eltern hat die Änderung ebenso wenig bewirkt wie die Präsenz von Homosexuellen im öffentlichen Leben.
"Das ist keine Frage der sozialen Schicht oder der Bildung", hat sie beobachtet.
Die Gründe sind vielfältig. Bei einigen ist es schlicht Unwissen, das zur Ablehnung der sexuellen Orientierung des eigenen Kindes führt, andere stört, dass ihre eigenen, "normalen" Rollenmuster nicht übernommen werden. Wieder andere fürchten negative Reaktionen ihrer Umwelt.
Breuling: Die Verzweiflung der Einzelnen ist die gleiche geblieben. Dazu muss ich sagen, wir haben die Eltern von bewusst lebenden Kindern, vorwiegend Söhnen. Viele übergehen die Homosexualität nach wie vor und outen sich bewusst nicht. Viele Eltern wussten es damals nicht, viele wollen es auch heute noch gar nicht wissen. Dabei zieht sich das durch alle sozialen Schichten. Es ist keinesfalls eine Frage der Bildung oder des Sozialstatus. Diese Menschen gehen damit weiß Gott nicht besser um. Es ist für alle gleichermaßen katastrophal.
NZ: Eltern wollen ja auch immer, dass ihr Nachwuchs gut durchs Leben kommt. Welche sind heute noch die größten Hürden für Homosexuelle?
Breuling: Es ist wider die Natur! Wobei man bedenken muss, dass Sexualität immer sehr unterschiedliche Ausprägungen hat, auch bei Homosexuellen. Dieser Ekel ist das eine – religiöse Gebundenheit das andere. Je frömmer die Menschen, desto mehr Schwierigkeiten haben sie mit gleichgeschlechtlicher Liebe.
Breuling: Der Staat hat seine Schritte gemacht, um die Strafbarkeit abzuwenden. Für viele ist es vielleicht seltsam, aber in Ordnung. Viel wichtiger ist, dass weltanschauliche Gruppierungen wie die katholische Kirche oder die Evangelikalen nicht so tun, als könnte man die Bibel wörtlich auslegen und Homosexualität daher einfach verdammen. Eltern sollten die guten Seiten ihrer Kinder nicht vergessen und ihre Vorstellungen vom Lebensweg ihrer Kinder über Bord werfen.
Das ist bei mir um die Ecke.
Wie steht es bei uns mit Toleranz, Verständnis, Akzeptanz, Würde, Trost? Mit Mitgefühl und Menschlichkeit?




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