Der weibliche Hang zur Esoterik - ein menopausaler Mittelfinger?

Bernd Kramer, Journalist, brachte im Mai diesen Jahres ein Buch heraus mit dem Titel "Erleuchtung gefällig? Ein esoterischer Selbstversuch". Der Mann bezeichnet sich als Rationalisten und unempfänglich gegenüber dem neuen Numinosen, das sich in unserer heutigen Gesellschaft ausbreitet - Astrologie, Homöopathie, Fern-Reiki, Geistheilen, Hellsehen, Reinkarnation, Lichtarbeit, Channeling. Undercover taucht er in die Esoterikszene ein. Unter anderem als Berater einer Hotline, einzige Voraussetzung für diesen Job ist der Kontakt zur geistigen Welt, und ausgestattet mit einem "Transzendenzzapfen", den er als günstigen Weihnachtsdekoartikel erwarb, auf einer Esoterikmesse. Wo auch immer er auftauchte, ob Seminar für das Erlernen von Hellsehen, Hotline oder Messe, traf er auf Frauen. Bevorzugt auf Frauen mittleren Alters. Und als Frau mittleren Alters frage ich mich:

Was suchen wir da?

Ich habe eine Antwort darauf, warum ich selbst eine Ausbildung zum Reikilehrer absolvierte, nach was ich suchte, ob und wie ich es fand und was sich  daraus entwickelte. Und ich möchte viele Frauen fragen, was sie dort suchen, in Horoskopen, Channelings, in einer Lichtkörperausbildung, auf Ho´oponoponoseminaren, beim schamanischen Heiler, in Engelkarten. Bestimmt gibt es nicht nur eine Antwort auf die Frage. Mich interessiert auch das, was darunter liegen könnte, denn solche Phänomene sind ja Strömungen in einer Gesellschaft und haben einen Grund, der oft in der breiteren Entwicklung einer Gesellschaft bedingt ist.
Und nun habe ich einen Artikel gefunden, der die Möglichkeit einer Antwort von vielen bietet. Ich finde interessant, was da aus Männermund kommt, in diesem Fall von kanadischen Wissenschaftlern der McMaster University, Hamilton, Ontario. Aus dem Mund von Männern, denen Männer wie Herr Kramer glauben - Wissenschaftler.
Die Artikelüberschrift lautet "Sind Männer schuld an der Menopause"? Und die Wissenschaflter behaupten anhand einer Studie, dass die Vorliebe von Männern an jüngeren Partnerinnen verantwortlich dafür ist, dass Frauen eine Menopause entwickelt haben. Außer uns Menschenweibchen gibt es nur noch zwei bekannte Arten, bei denen die Weibchen die Reproduktion relativ früh einstellen: die Killer- und die Grindwale. Warum wir?
Ein Erklärungsmodell ist der "Großmutter-Effekt", der besagt, dass das weibliche Genmaterial weiter gestreut wird, wenn wir uns nicht nur um die Aufzucht der eigenen Kinder, sondern uns auch noch um die Aufzucht der weiteren Nachfahren kümmern. Davon halten die kanadischen Wissenschaftler nichts, sie behaupten, dass wir Frauen unsere Fruchtbarkeit bis ins hohe Alter behalten und uns somit wie die Männer lebenslang fortpflanzen könnten, wäre da nicht die Neigung der Männer zu jüngeren Frauen. Ältere Frauen bekommen deswegen keinen Nachwuchs mehr, weil ihnen die Sexualpartner fehlen. Sehr spannend finde ich die Behauptung, dass die Entwicklung auch andersherum möglich wäre, nämlich, dass die Männer ab fünfzig ihre Zeugungsfähigkeit einstellen würden, hätten die Frauen sich jüngeren Partnern zugewandt.
Davon abgesehen, dass es heute wahrscheinlich nur noch für wenige erstrebenswert ist bis ins hohe Alter Kinder bekommen zu können, gibt es da noch ein beachtenswertes Detail, die verlängerte Lebenserwartung. Es wird vermutet, dass Frauen früher nicht sehr lange über ihre reproduktive Phase hinaus gelebt haben. Heute aber ja. In der Regel steht uns noch ein Drittel  unseres Lebens bevor. Und was fangen wir Frauen mit der Zeit an, die uns über die Reproduktion hinaus bleibt? Was fangen wir mit der Zeit an, wenn nicht einmal der spekulierte Großmutter-Effekt bleibt, weil die Kinder keine Kinder bekommen (können/wollen) oder so weit weg wohnen, dass keine Unterstützung möglich ist? Und ich wage jetzt einmal eine riskante Frage:

Was gibt uns eine evolutionsbedingte Daseinsberechtigung in einer Zeit, in der sich immer mehr Männer jüngere Partnerinnen suchen und aufgrund ihrer lebenslangen Reproduktionsfähigkeit auch noch einen Sinn darin sehen und das Argument auf ihrer Seite haben, dass da männlicher Instinkt waltet, der das Erbgut weit und gesund gestreut haben will? Wo bleibt der Sinn im Leben der über die Reproduktion hinaus lebenden Frau?

Bitte nicht missverstehen, ich habe kein Interesse daran eine einfache Antwort in der Evolution oder dem Verhalten der Männer zu finden oder Schuldzuweisung für die weibliche Midlifecrisis zu betreiben.
Die Frage ist: Kann es sein, dass sich Frauen mittleren Alters nicht mehr von einer männlichkeitsdominierten Wissenschaftswelt überzeugen lassen wollen? Dass sie den menopausalen Mittelfinger heben und sagen "Logik und wissenschaftliche Beweisführung sind mir egal!"? Dass sie nach etwas suchen, was ihrem Leben außerhalb von Ehrenämtern oder Aufopferung in Pflege jeglicher Art einen Sinn gibt? Jenseits von Wissenschaft und Vernunft? Im Übersinnlichen?
Ich möchte hier nicht diskutieren, ob die Esoterik der richtige Platz ist. Ich möchte fragen

Was sucht ihr in der Esoterik und was findet ihr?

Alle Frauen, die sich von diesem Beitrag und der Frage angesprochen fühlen, dürfen mir gerne schreiben (info@leben-zuhoeren.de). Männer selbstverständlich auch. Da über der Esoterik noch immer ein Hauch des Mystischen liegt, wäre es mal an der Zeit für Entzauberung.

Der Gedankenstreuner meldet sich zurück und grüßt alle Leser ganz herzlich!

***

Eine Übersicht zum Thema finden Sie auf meiner Website unter "Esoterik - eine Reflexion".





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