Sei wie das Veilchen im Moose

Wer von euch entspringt der 60-er Jahre Generation? Wer von euch ist im Besitz eines Poesiealbums?
Für alle Unwissenden, ein Poesiealbum ist eine Art Freundschaftsalbum, das man in der Klasse oder im Freundeskreis hat reihum gehen lassen und der- oder diejenige durfte es mit einem Spruch, einem Bild, Eselsohren oder Glitzerbildern versehen. Es stellte sozusagen den nicht-interaktiven facebookaccount dar.

Als ich gestern anlässlich eines runden Geburtstages einer Freundin in den Devotionalien meiner Frühzeit stöberte, fiel mir das blaue Büchlein in die Hände. Ein Schatz meiner Kindheit. Wie alles, was es früher mal gab, reduziert. Heute habe ich auf facebook "Zitate und Sprüche" geliked und bekomme jeden Tag mehr als genug. Als Kind musste ich warten bis das Büchlein wieder zur mir zurückkam, suchte aufgeregt den Eintrag und las mit mehr oder weniger großem Verständnis, was meine Lehrerin oder ein Klassenkamerad mit einem Stift festgehalten hatten. Da ist Witziges von Erich Kästner neben Gewichtigem von Goethe und sage und schreibe dreimal der Spruch:
Sei wie das Veilchen im Moose,
bescheiden sittsam und rein,
und nicht wie die stolze Rose,
die immer bewundert will sein.
Heute bleiben die meisten Dinge an der Oberfläche, ich überfliege die Sprüche und selten spricht mich etwas wirklich an. Witzig ist gut, wenig berührt. Als Kind blätterte ich in diesem Büchlein, schaute mir die Bilder an, die handgemalt waren, freute mich über die Glitzersticker, die es teuer im Schreibwarengeschäft, eingeschweißt in Cellophanpapier, zu erstehen gab. Man bekam sie in Bögen, die einzelnen Sticker waren über einen Steg verbunden, den man durchtrennen musste. Ich überlegte ganz genau, wer welchen Sticker eingeklebt bekam, wer den Engel und wer den Blumenkorb. Die wichtigsten Menschen in meinem Leben bekamen die schönsten Sticker. Sie waren noch nicht selbstklebend und man musste sie vorsichtig einkleben, damit es keine bösen Schmierer gab. Alles Handarbeit.
Ich las mir die Sprüche immer und immer wieder durch.

Ich frage mich, wie so ein Spruch heute ankommen würde. Meine Tochter würde mir den Vogel zeigen. Jeder will doch eine Rose sein, wer will schon im Moos vor sich hinkümmern? Was hat dieser Spruch, der sich mehrmals verewigt wissen wollte, für einen Einfluss auf ein kleines Mädchen? Ich gehöre der Generation an, in der Mädchen lieb(enswert) waren, wenn sie brav waren. Wenn sie Veilchen waren. Ich mag Veilchen, aber das, was dieser Spruch mit ihnen in Verbindung setzt, das mag ich nicht. Ich empfinde das Etikett "bescheiden sittsam und rein" fast als Beleidigung für so ein Veilchen. Wer sagt denn, dass es nicht ganz anders sein kann. Vielleicht rocken die Veilchen den Wald mal ganz gerne?

Das Lieblingsgeschenk der Verwandtschaft für uns waren damals Schlafanzüge.
Auf keinem der Oberteile für meine Brüder stand "Wünsch dir keinen schnellen Sportwagen, sondern sei zufrieden mit dem langsamen Kleinwagen".

Und ich finde damit eine Antwort auf die Frage, warum die Internetseiten mancher männlicher Coaches, selbsternannter Lehrer und Psychologen nur so vor Selbstgefälligkeit strotzen. Sie haben den Sportwagen im Focus. Vielleicht stand auf ihren Schlafanzügen "you can do it, so go for it!" und ich vermute mal, dass auf der Rückseite nicht stand "Tu es bescheiden, sittsam und rein".
Ich mag Veilchen lieber als Rosen, aber die Veilchen brauchen eindeutig ein neues Image.

Auf gehts, Veilchen, lasst uns das Moos rocken!

***

Eine Übersicht zum Thema finden Sie auf meiner Website unter "Küss mich ... oder wirf mich an die Wand".


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