Christuskind, Christkind und der Wunschzettel

Wer von euch glaubt an Engel?

In Franken, wo ich geboren und aufgewachsen bin, gibt es keinen Weihnachtsmann, sondern das Christkind. Jedes Jahr hält es auf dem Markt, der nach ihm benannt ist, die Eröffnungsrede. Die Leute strömen von nah und fern zum Christkindlesmarkt. Das Christkind sieht aus wie ein Rauschgoldengel und wenn es nicht blond ist, dann wird es blond gemacht, mittels einer Lockenperücke.
Meine Großeltern pinselten an Heilig Abend, kurz vor der Bescherung, Goldglimmer an den Türstock und erzählten ihren vier Kindern, dass das Christkind dort mit seinem Flügel hängengeblieben ist, nachdem es die Geschenke unter den Weihnachtsbaum gelegt hatte. Die Kinder starrten ehrfurchtsvoll mit offenen Mündern auf das Gold.
Auch bei uns brachte das Christkind die Geschenke. Wofür sonst haben wir einen Wunschzettel an es geschrieben, den wir dann auf das Fensterbrett legten, damit das Christkind ihn im Vorbeirauschen mitnehmen konnte.
Unter dem Baum stand auch eine handgeschnitzte Holzkrippe. Irgendwann fiel es mir schwer den Zusammenhang herzustellen zwischen dem kleinen, in Lumpen gewickelten Jungen aus der Krippe, den alle Christuskind nannten und dem blondgelockten, beflügelten weiblichen Wesen, das im weiten Gewand Christkind genannt wurde. Auch der Kaplan, der unseren katholischen Religionsunterricht hielt, konnte mir darauf keine befriedigende Antwort geben. So viele kindliche Fragen blieben offen und ich hörte "Hör auf zu fragen, das verstehst du noch nicht." Irgendwann verlor ich mein Interesse an Engeln und mein Wunschzettel ging direkt in die Hände meiner Eltern.

Die letzten Jahre bekam ich wieder viel zu hören von Engeln. Sie hatten reichlich wenig mit dem Rauschgoldengel aus meiner Kindheit und den barocken Putten in den katholischen Kirchen, die ich besuchte, zu tun. Es ging um die Erzengel, die mit allen möglichen Gaben und Fähigkeiten ausgestattet sind, um Schutzengel, die um uns herum sind und letztendlich um uns selbst, die wir alle Engel sein sollen. Was ist ein Engel? Das Wort Engel kommt aus dem Griechischen und heißt "Bote". Sind Engel Boten? Und welche Botschaft sollen sie bringen? Sind sie männlich, weiblich oder geschlechtslos? Können Engel auch homosexuell sein? Sind sie unsterblich und können sie sich verlieben, so wie in Wim Wenders Film "Der Himmel über Berlin"? Sind sie Putten, mächtige Wesen, Licht oder Gestaltwandler und haben sie wirklich Flügel? Stimmen unsere Bilder mit dem überein, wie sich die Engel sehen? Und wenn sie Flügel haben, warum? Welche Sprache sprechen sie und wie können sie mit uns kommunizieren? Wie viele Schutzengel hat ein Mensch in seinem Leben? Und wo sind sie, wenn jemand vor einen Zug gestoßen oder erstochen wird? Wenn es wirklich einen Plan gibt, wann wir abtreten sollen, warum gibt es dann überhaupt Schutzengel? Damit der Plan eingehalten wird? Können sich Engel streiten? Mögen Schutzengel immer den Menschen, den sie beschützen sollen und können sie ihren Job kündigen, wenn er ihnen zu anstrengend wird?
All diese Fragen kamen wieder hoch und noch ein paar hinzu.

Nun bin ich ein bisschen älter und verständiger geworden, aber das, was mir gesagt wurde, verstehe ich noch immer nicht. Aber heute denke ich, dass es vielleicht gar nicht unsere Aufgabe ist die himmlischen Welten und ihre Ordnung zu verstehen. Wie auch könnte es uns gelingen das zu verstehen, wenn wir nicht einmal uns selbst verstehen. Kann es sein, dass wir wissen können wie eine andere Welt tickt, ohne Verständnis für die zu haben, in der wir ticken? Ich frage mich wie Leute mit Bestimmheit wissen wollen wie eine Welt aussieht, die für uns nicht wirklich zugänglich ist. Gibt es Tore zwischen unserer und einer anderen Realität und wer darf diese Tore durchschreiten? Und was ist wahr an dem, was Menschen wahrnehmen und für wahr halten? Wenn die eine Welt eine Täuschung ist, ist es dann nicht auch die andere? All diese Fragen führen irgendwann ins Nichts. Ist das Nichts die Wahrheit? Warum glauben Kinder ans Christkind und Erwachsene ans Christuskind? Und warum wurde ich mit so vielen Fragen geboren?

Ich habe mal gelesen, dass wir am Ende unseres Lebens in der Rückschau erkennen können, wie und warum unser Leben verlaufen ist, wie es verlief. Und welche Menschen welche Rolle spielten. Ich hoffe sehr, dass ich zu diesem Zeitpunkt geistig helle bin, denn das wäre für mich ein echter Zieleinlauf und vielleicht kommen dann all die Antworten auf die vielen Fragen und ich kann herzhaft lachen, weil kompliziert scheint, was so simpel ist.
Das steht auf meinem Wunschzettel, den ich heute auf geistiger Ebene in den Äther schicke. Wer auch immer ihn in die Hände bekommt, bitte lass mich am Ende lauthals lachen ob der Einfachheit der Auflösung des Lebensrätsels.

Was steht auf deinem Wunschzettel? Und an wen schickst du ihn?







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