Verlorene Zeit

Am Wochenende waren wir auf einer Feier eingeladen.
Ich sprach mit einer Frau über ihren Sohn, der nun studiert. Er wollte sich nach dem Abitur ein Jahr Zeit lassen, aber der Vater war der Meinung, das wäre verlorene Zeit. "Sohn, du verlierst ein ganzes Jahr".

Unsere Tochter gehörte zum letzten G9-Jahrgang in Bayern, im Anschluss an das vorgezogene Abitur im März hätte sie sich nahtlos ins Sommersemester an der Universität einschreiben können. Sie brauchte eine Phase der Orientierung, des Luftholens und ging im Herbst zum Studieren. Zwei ihrer Großelter meinten, sie hätte nun "ein halbes Jahr verloren".

Am Montag hatte ich ein Gespräch mit einem Freund, der meinte, es würde ihn wütend machen, wenn er seinen Sohn anruft, fragt was er tue und dieser antwortet "Ich chille". Chillen ist das Antiwort schlechthin, es stehe für nichts anderes als Faulheit. Faulheit ist für manche Generationen sehr negativ belegt, Faulsein ist schlecht, für die junge Generation ist Chillen das größte schlechthin. Chillen ist positiv belegt. Es bedeutet sich eine Auszeit zu nehmen. Auszeit ist verlorene Zeit. Die Jugend verliert gerne Zeit.

Diese Aussagen lassen mich fragen "Welche Zeit geht verloren in all den Momenten, in denen wir leben, was auch immer wir tun, während wir leben?". Was ist verlorene Zeit? Zeit, die wir verpasst haben Geld zu verdienen, uns zu bilden, zu arbeiten, in die Rentenkasse einzuzahlen? Können wir Zeit überhaupt verlieren? Vergeht sie nicht einfach ungeachtet dessen, ob wir etwas tun oder nicht? Wenn wir Zeit verlieren können, können wir sie dann auch gewinnen? Wenn wir etwas noch schneller tun als alle anderen, haben wir dann einen Zeitgewinn? Und was dürfen wir tun mit der gewonnenen Zeit?

Gestern hörte ich die Geschichte einer jungen Frau, die keine Zeit verlor ein 1,2 Abitur zu machen und im Anschluss ein ähnlich gutes Staatsexamen. Als Referendarin war sie auch gerne gesehen, als es dann um eine Festanstellung als Gymnasiallehrerin ging, war keine zu finden. So lange nicht, dass sie sich nun dafür entschied irgendeine Arbeit zu tun, die sie Geld verdienen lässt. Was ist nun mit der Zeit, die sie nicht verloren hat? Und hat sie etwas dabei gewonnen? Was könnten die sagen, die darin übereinstimmen, dass sie fleißig und schnell war und keine Zeit verloren hat? Dass sie weder gechillt hat, noch faul war.

Haben die grauen Herren ganze Arbeit geleistet?

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Dieser Beitrag ist Teil einer Themenzusammenfassung, die Sie unter "RaumZeiten" auf meiner Homepage finden.



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