Depression und Familie
Gerade lese ich das Buch "Sie haben es doch gut gemeint – Depression und Familie“ von Josef
Giger-Bütler, einem Psychotherapeuten aus der Schweiz, der sich auf
die Therapie und Heilung von Depressionen spezialisiert hat.
Depression ist in unserer Familie, meines Erachtens, kein Thema. Das
Buch hat jemand mitgebracht, in dessen Familie es wohl ein Thema ist. Und es interessierte mich.
Jedes Jahr zu Weihnachten erhalten wir
einen Rundbrief, geschrieben von einer Frau mit großer,
international verstreuter Familie. Die Frau kenne ich persönlich
nicht, sie entstammt dem Bekanntenkreis meines Mannes vor meiner
Zeit. Ihre Briefe las ich trotzdem gern, waren sie doch immer so
lebendig und voller Abenteuer. So unglaublich positiv und
optimistisch. Sie sprühten nur so vor Energie und Lebenslust. Vor
wenigen Jahren enthielt der Brief einen Bruch, nämlich die
Schilderung, dass das geliebte Wohnmobil verkauft wurde, da ihr Mann
an einer Depression leidet und nicht mehr wegfahren will. In den
folgenden Jahren war fast spürbar, wie die Depression des Mannes
auch der Frau jegliche Kraft und Perspektive entzieht. Letztes Jahr
enthielt der Brief nur noch Stichpunkte, die bei mir den Eindruck
hinterließen „Ich lebe noch, möchte euch aber ersparen wie“.
Ich kenne aus meiner Jugend
Freundinnen, deren Mütter unter Depressionen litten und wir uns
deswegen nur flüsternd in einem verdunkelten Haus bewegen durften.
Was Depression tatsächlich bedeutet,
war mir nie wirklich ersichtlich. Das Buch klärt mich auf und ich
hoffe, dass ich das, was ich bisher so auf dem Schirm hatte, fallen
lassen kann. Josef Giger-Bütler räumt auf mit Urteilen und
Vorurteilen, die entstehen, wenn man nicht betroffen ist und keine
Ahnung hat. Er beschreibt Depression als eine perfide
Überlebensstrategie, die bereits in der Kindheit angelegt wird. Als
eine Permanent-Überforderung, die der Umgebung erst dann auffällt,
wenn der Punkt erreicht ist, an dem nichts mehr geht. Und wie sie das
eigene Leben, aber auch das der Nahestehenden zerstören kann.
Giger-Bütler bietet Lösungswege an. Er hat sogar Folgebücher
geschrieben, in denen er die Depression als heilbar erklärt und
Anleitungen zum eigenständigen Ausstieg gibt.
Im Kapitel „Depression entsteht in
der Familie – Krank machende Bedingungen in der Kindheit“ gibt es
eine Passage, die mich persönlich anspricht, weil sie mir die
Antwort auf eine Frage gibt, die zwar nichts mit Depression zu tun
hat, wohl aber mit dieser emotionalen Unterversorgung, die so viele
von uns betrifft. In diesem Kapitel beschreibt er nach außen
„intakte“ Familien, in denen Eltern oder ein Elternteil zwar da
sind, aber (aus unterschiedlichsten Gründen) doch nicht da sind. Und
wie unter solchen Bedingungen verhaltensunauffällige,
funktionierende Kinder entstehen. Brav, lieb, angepasst (und in ihrer
Entwicklung gestört).
Oder man könnte auch sagen, dass sich die Eltern gegen die Kinder entscheiden, auch wenn es für sie nie um einen Entscheid geht. Wenn sie sich bewusst entscheiden müssten, dann würden sie sich mit größter Sicherheit in aller Entschiedenheit und Überzeugung für die Kinder entscheiden. Wenn ich trotzdem von einem Entscheid spreche, dann meine ich, dass es sich aus der Sicht der Kinder tatsächlich um eine Entscheidung gegen sie handelt.
Giger-Bütler "Sie haben es doch gut gemeint" Depression und Familie
Jaaa, das ist es. Einatmen, ausatmen,
aufatmen.
Das sind genau die beiden
unterschiedlichen Sichtweisen, oder besser Fühlweisen, von Eltern
und Kindern. Die Eltern würden sich nie gegen uns entscheiden. Und
doch tun sie es.
Mein persönliches Fallbeispiel:
Ich war ein unglaublich
freiheitsliebendes Kind und am liebsten in der Natur unterwegs, was
sich als schwierig gestaltet, wenn man mitten in der Großstadt
aufwächst. Mein älterer Bruder und ich verbrachten drei Jahre
ganztags in einem Kindergarten. Unser jüngerer Bruder durfte mit der
Mama nach Hause, auch dann, als er selbst im Kindergartenalter war. Als ich sie
darauf ansprach, warum er und nicht ich, antwortete sie „Weil er
sich so schön alleine beschäftigen kann und du eben nicht“. Meine
Freiheitsliebe und Naturverbundenheit waren Eigenschaften, die mich
unter den Lebensbedingungen, in denen meine Eltern lebten, dazu
führten, dass mir meine Freiheit entzogen und ich von der Natur
entfernt wurde. Meine Mutter war nicht berufstätig, sie hatte einen
kleinen 3-Zimmerhaushalt zu führen, sie hätte jeden Tag mit uns
rausgehen können, aber sie konnte nicht, aus verschiedensten
Gründen, für die wir Verständnis haben mussten. Andere Dinge
gingen vor. Da spielte es auch keine Rolle, dass der Kindergarten
eine Erziehungsanstalt war, in der die Kinder nie an die frische Luft
durften, bei jedweder Art von Undiszipliniertheit auf dem kalten Klo
Strafe stehen mussten oder eingesperrt wurden, bei Erbrechen
gezwungen wurden ihre eigene Kotze zu löffeln. Dazu meinte meine
Mutter „Ich bin froh, dass ich überhaupt einen Platz für euch
bekommen habe“. Sie meinte auch „Meine Kinder sind mein Ein und
Alles“. Sie hätte uns nie weggegeben. Und doch hat sie es getan.
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Dieser Beitrag ist Bestandteil der Themensammlung Traumatisierte Familien - Warum Kontaktabbruch auf meiner Homepage.
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Dieser Beitrag ist Bestandteil der Themensammlung Traumatisierte Familien - Warum Kontaktabbruch auf meiner Homepage.