Brief einer Mutter an ihren Sohn


Lieber Sohn,

heute Morgen wurde mir klar, warum T. und seine Geschichte in meinem Leben sind. Es geht um Verrat. Verrat spielte eine große Rolle in meinem Leben. Ich wurde verraten und ich habe verraten. Deswegen kann ich Verrat erkennen. Andere würden Begebenheiten anders benennen, aber ich spüre das Gefühl, das mit Verrat einhergeht. Eine tiefe Gekränktheit, hervorgerufen durch einen Angriff auf die Integrität und die Würde eines Menschen.

Und mir wurde klar, dass der Verrat genau so gesehen werden möchte wie alle anderen Dinge auch. Wir versuchen das, was wir an Unheil angerichtet haben zu vertuschen, schön zu reden, zu verneinen, zu rechtfertigen. Das würden wir mit Dingen, die heilsam sind, nicht tun. Die Stärken werden beachtet, die Schwächen nicht.

Und deswegen möchte ich meinen Verrat an dir ansehen.
Das kann ich tun, da mein Gefühl zu dieser Zeit ähnlich dem deinigen war. Ich habe mich verraten gefühlt.
Was meine Aktion für dich bedeutet hat, kannst nur du abschätzen. Ich kann sagen, was damals  bei mir passiert ist. Du hast dich mir entzogen und ich habe den Zugang zu dir verloren. Das ist legitim und sogar notwendig für ein Kind, das in die Pubertät kommt. Obwohl ich es weiß, konnte ich nur schwer damit umgehen. Theorie und Praxis klaffen manchmal weit auseinander. Es fiel mir schwer dich frei zu setzen. Emotional frei zu setzen.
Ich war unfähig die Veränderung, die in und mit dir vorging, anzunehmen und habe dein Verhalten als Angriff gesehen. Manchmal hast du mir Einblicke in deine tiefe Seele gegeben, das hat mich erschüttert. Ich wollte nicht, dass du es schwer hast. Ich habe alles versucht zu tun, damit ihr es leicht habt. Zu sehen, dass ich als Mutter keinerlei Kontrolle darüber habe, ob du es dir leicht oder schwer machst, ob unter deinem scheinbar sonnigen Gemüt dunkle Schatten liegen, ob du eine Aufgabe gewählt hast, die für mich unerträglich ist, das hat mich verzweifelt fühlen lassen. Das alles steht nicht in meiner Macht. Was kann ich als Mutter ausrichten?
Ich wollte das alles so nicht und bin in die Ablehnung gegangen. So war das nicht gedacht, ich habe mich verraten gefühlt. Vom Leben verraten gefühlt, das mir einen Sohn geschenkt hat, der vielleicht einen schweren Weg gewählt hat. Ich bin doch nicht diesen schweren Weg gegangen, damit eines meiner Kinder es auch tut. Es soll besser und leichter werden. Keine Kontrolle darüber zu haben, das war schwer für mich zu akzeptieren.

Mein Verrat an dir bestand für mich darin, dass ich dir immer gesagt habe, dass ich dich so liebe wie du bist – egal, was du tust (außer jemanden umbringen, so habe ich das damals gesagt) und dann habe ich angefangen dich abzulehnen, weil sich etwas ganz anderes gezeigt hat, weil du schwierig für mich geworden bist und ich nicht damit umgehen konnte. Ich habe mich angegriffen gefühlt und habe dich in deiner Würde und in deinem Vertrauen angegriffen. Bedingungslose Liebe ist ein Ziel. Ich würde gerne so lieben.

Es tut mir von ganzem Herzen Leid, Sohn, dass ich dir in dieser schwierigen Zeit nicht das Gefühl geben konnte, dass ich dich liebe wie du bist, obwohl ich es dir immer versprochen habe. Ich habe mein Versprechen dir gegenüber gebrochen.

Heute, aus ein wenig Distanz heraus, kann ich dich besser sehen. Manches tut mir weh. Es sind die Dinge, die ich gelernt habe an mir selbst abzulehnen, weil es in dieser Welt nicht üblich ist den schweren Weg zu schätzen. Wenn ich es geschafft habe für mich selbst zu akzeptieren und mit Wohlwollen zu betrachten, dass ich einen schwereren Weg gewählt habe und das gut so ist, dann werde ich auch dich voll und ganz akzeptieren können.

Ich respektiere dich in dem, was du tust. Ich sehe, dass du es dir nicht leicht machst. Ich finde das ist ein guter Weg. Heute – Jetzt – kann ich das so sehen. Danke.

Durch dich kann ich sehen und verstehen, dass meine Mutter sich ähnlich enttäuscht, gekränkt und verraten gefühlt hat wie ich. Das Leben hat ihr nicht die Tochter geschenkt, die sie wollte. Ihre Erziehung hat mich nicht zu dem Wesen gemacht, das ihr gut tut. Sie hat das nicht dem Leben zugeschrieben, sondern mir. Und vielleicht kann sie die Chance nicht sehen, die in den Kindern liegt, die uns so ähnlich sind. Vielleicht habe auch ich eine Zeit lang so gedacht. Die Dinge schließen sich immer zum Kreis, bis wir es schaffen auszutreten. Das Leben hat mir den Sohn geschenkt, den ich brauche. Denn du lässt mich verstehen. Du bringst mir Frieden.
Das Leben meint es immer gut mit uns.

Deine Mutter

***

Dieser Beitrag ist Teil eines Prozesses, den Sie auf meiner Website unter "Verlassene Eltern und Kinder -Traumatisierte Familien" finden.

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